Tannenbäumchen

Als ein kleiner Tannenkeimling aus seiner braunen Samenschale durch den Boden hervor kroch, sah es den klaren blauen Himmel. Reckte und streckte ihm seine zarten, kleinen und weichen Nadel-Zweige entgegen.
Doch im gleichen Moment erschrak er, ein dumpfes Rauschen war zu hören. Öffnete seine verschlafenen Äuglein ganz weit und fragte ängstlich: "Wo bin ich "?
Ein hübscher schlanker Baum antwortete ihm: "Du bist im Wald, in einem uralten Buchenwald" und erzählte ihm weiter, "oben hinter dem Hügel stehen Deine Verwandten: die Kiefern, Fichten, Erlen und Tannen.  Sie sehen aus, wie Du" .
" Ich bin also eine Tanne" ? Fragte der Sprößling verwundert. "Und weshalb bin ich nicht bei den anderen Tannen"? Wollte er wissen. Der schlanke Baum, es war eine junge Rotbuche, antwortete ihm, daß der Wind scheinbar sein Samenkörnchen hierher wehte.
"Dann bin ich durch den Wind geboren"? Fragte das winzige Bäumchen erstaunt.
" Nein, nein", sagte die Buche, "die Tannen tragen im Herbst eine große Anzahl brauner Zapfen, die sogenannten Baumfrüchte. Aus diesen Zapfen springen am Ende des Jahres zahllose kleine Samenkörner heraus, die der Wind weiter trägt und für sie überall ein Plätzchen sucht".
"Und wo ist meine Tannenmutti"? Wollte der neugierige Keimling wissen. Doch leider konnte die junge Rotbuche darauf wirklich keine Antwort geben. Auch nicht auf alle weiteren Fragen, welche die  kleine Tanne stellte.

Der Geburtstag vom Tannenkind war warm und windstill. Im Wald konnte man vertraute Vogelstimmen hören und der Specht hämmerte und klopfte wie ein Zimmermann an rissige Baumrinden. Die Späne flogen verstreut auf den weichen Waldboden und bedeckten oftmals heranwachsende Pilze in ihrem Moosbett. 
Eichhörnchen sprangen von Wipfel zu Wipfel. Ameisen, Käfer, auch Schmetterlinge, krochen und flogen überall herum. Hasenkinder vertrieben sich die Zeit mit einem Fangespiel und zupften zwischendurch zarte Grashalme zum Knabbern, um damit ihren Hunger zu stillen. 
Im Wald herrschte bei dem herrlichen Wetter ein lebendiges Treiben. Tannenbäumchen wollte größer und endlos höher als die starken Buchen werden.
Strengte sich mit seinem Wachsen übereifrig an, um ganz schnell über sämtliche Eichen und Buchen hinweg schauen zu können. Die alten Bäume warnten täglich und jede Stunde, zumal seine Baumart dafür nicht geschaffen war und ein starker Sturm das dünne und schwache Bäumchen, mit seinen zarten Zweigen, leicht entwurzeln könnte.
Die Buchen, auch die alten Eichen, breiteten bei Windwetter oder starken Gewittergüssen, fürsorglich  und schützend ihre Astarme aus.
Fünf Jahre hörten sie voller Sorge, wie die Tanne immerfort mit Bewunderung prahlte, daß sie das hellste Grün trage, die schlankste sei, wunderschön aussähe und bald mit ihrer Spitze über den Wald hinwegsehen  würde.

Eines Tages brauten sich dicke dunkle Wolken zusammen. Der Sturm sauste durch den Wald und drückte das Bäumchen fast bis zum Boden. Buchen und Eichen hielten gleichzeitig vorbeugend ihre Äste entgegen, damit die Tanne keinen Schaden nahm und die alten erfahrenen Bäume flüsterten sich rauschend zu: "Es ist wieder einmal gut gegangen".
Doch an einem heißen Sommertag, alle Lebewesen versteckten sich, weil die Sonne heiß vom Himmel brannte und die brütende Hitze zog am späten Nachmittag mehr und mehr schwere graue Gewitterwolken zusammen.
Nach Einbruch der Dämmerung entwickelten sich daraus ein starkes Unwetter, mit hellen Blitzen und lautem drohenden Donner. Wie Peitschenhiebe zuckten die starken Blitze in den Wald hinein. Buchen und Eichen sahen erschreckt und verängstigt zum ungewöhnlichen Abendhimmel empor.
Aber der Sturm konnte den Bäumen nichts anhaben mit ihren kräftigen, dicken und knorrigen Stämmen, denn sie hielten und stützten sich gegenseitig.

Nachdem am frühen Morgen die warmen Sonnenstrahlen von neuem durch Wolken und  Baumkronen lachten - Vögel ihre herrlichen Lieder sangen, Buchen und Eichen nach dem starken Regen umfangreich und tief durchatmeten,
bemerkten plötzlich die Bäume ringsherum, daß Tannenbäumchen weinte.
Fassungslos sahen sie, daß aus etlichen Wunden dicke Harztränen rannten. Seine schlanke Spitze lag verwelkt auf dem nassen Waldboden und das Bäumchen sah zerzaust aus.
Was war geschehen ? Das Tannenkind war zu schlank gewachsen. Eine besonders heftige Windböe hatte es gepackt und wollte seine Wurzeln aus dem Erdbett reißen. Ihre starke Hand drückte die kleine Tanne immer und immer wieder bis zum Boden hinunter.  Hatte an diesem Spiel ihre große Freude. Schüttelte, rüttelte und knickte ein paar zarte dünne Zweige voller Übermut - und dabei brach auch die Spitze ab.
Der junge Baum mußte in dieser Nacht tiefe unzählige Schmerzen erleiden, so daß es sehr krank und traurig wurde. Seit dem Unwetter weiß die junge Tanne, wie besorgt die alten Bäume täglich um sie gewesen waren, durch den Schutz ihrer starken Äste mit dem Blattwerk.
Sie erkannte aber auch, daß sie ohne Spitze nie ein geschmückter Weihnachtsbaum werden kann.

Tannenbäumchen möchte nicht mehr daran denken, auch kein Wort darüber verlieren, daß es größer und mächtiger wachsen will als die uralten Buchen und Eichen, welche durch ihre langen Erfahrungen und Ausdauer,  bereits Jahrzehnte im Walde standen.
Niemals sollen die Bäume,  die ihre besten Freunde sind, sie einmal "Gernegroß" nennen.